Die deutsche Messewirtschaft ist zurück mit bemerkenswerten Rekordzahlen, aber das Wachstum kommt aus dem Ausland. Die Aussteller- und Besucherzahlen in Inland liegen noch zurück. Die Digitalisierung und die angestrebte Klimaneutralität lassen die Messeplätze nicht ruhen. Es besteht ein verhaltener Optimismus. Gelingt der Turnaround?
Manchmal geht es fast ein bisschen vergessen, welch starkes Comeback die gesamte deutsche Messewirtschaft in den letzten zwei Jahren hingelegt hat, wenigstens was die wichtigsten Kennzahlen wie Umsätze oder Gewinne betrifft. Gemäss den Recherchen von Smartville.digital, der unabhängigen journalistischen Plattform zur Messe- und Eventwirtschaft in den deutschsprachigen Ländern, lag der Umsatz der 14 grössten deutschen Messeplätze im Messejahr 2023 mit 3293 Millionen Euro nur wenig hinter dem Rekordjahr 2019 mit 3388 Millionen Euro zurück. Auch für das Messejahr 2024 sind Rekorde angesagt. „Messen sind unersetzlich. Das hat die Welt mittlerweile begriffen“ sagte Wolfgang Marzin, Vorsitzender der Geschäftsführung der Messe Frankfurt, an der Jahrespressekonferenz am 27. Juni in Frankfurt.
Viele der grossen Messeplätze weisen Ergebnisse aus, die sogar das Niveau von vor Corona übertreffen: Die Messe Berlin, die Koelnmesse, die Messe Essen und die Messe Dortmund vermeldeten bereits für das Jahr 2023 Rekordergebnisse. Haarscharf nahe an Rekorden waren die Deutsche Messe AG (Hannover) und die Messe Düsseldorf. Im laufenden 2024 wird es bei der Messe Frankfurt, der Nürnberg Messe und der Messe Stuttgart zu Rekordumsätzen mit Wachstumsraten von bis zu 42 Prozent kommen. Auch die Messe München kann im Jahr 2025 ein Rekordjahr erwarten, wenn es zu einer Ballung an Messen kommt, wie sie nur alle zehn Jahre vorkommt.
Verhaltener Optimismus
Diese Zahlen spiegeln aber nur die halbe Wahrheit wider. Unübersehbar ist auch, trotz Rekordumsätzen, dass ganz grosse Messen wie eine Hannover Messe, die Drupa in Düsseldorf und weitere gegenüber der Zeit vor Covid teilweise beträchtliche Lücken an Ausstellern und Besucherinnen hinterlassen haben.
An den meisten Messeplätzen verspürt man deshalb einen verhaltenen Optimismus. Man ist froh, dass die Messewirtschaft eine Renaissance erlebt, die während der Pandemie niemand zu prognostizieren gewagt hätte. Aber: „Noch nicht alle Veranstaltungen haben die Vor-Coronazahlen erreicht“, sagt Britta Wirtz, Geschäftsführerin der Messe Karlsruhe. Das Statement widerspiegelt trotz Rekordergebnissen ziemlich genau die Situation bei den deutschen Messeplätzen. Bleibt die deutsche Messewirtschaft auf der Überholspur?
Stärkung des Messeplatzes Deutschland im Ausland
Gemäss Jörn Holtmeier, Geschäftsführer des Verbands der deutschen Messewirtschaft AUMA, kommen mehr als ein Drittel der Messebesucherinnen und -besucher in Deutschland und fast 60 Prozent der Aussteller aus dem Ausland. Das ist ein hoher Anteil und widerlegt die These, dass sich die Weltleitmessen nach Asien verlagern. Zwei Drittel aller Weltleitmessen finden nach wie vor in Deutschland statt, jedoch nennt Holtmeier Südkorea, Dubai und Spanien als massgebende Konkurrenten: „Seoul, Dubai und Barcelona, um nur drei Beispiele zu nennen, haben erkannt, welch Booster Messen für die Wirtschaft sind“, sagt er.
Während in Europa das wirtschaftliche Bruttoinlandsprodukt (BIP) stagniert – gemäss der Europäischen Kommission wird das Wachstum im Jahr 2024 in Deutschland gerade noch 0,1 Prozent betragen – befinden sich die wirtschaftlichen Wachstumsregionen anderswo, in Asien etwa sind es zwischen 1 und 5 Prozent. In Vietnam, mit dem führenden Messeveranstalter Messe Frankfurt, belief sich das Wachstum des BIP 2023 auf 5 Prozent. Vietnam ist das am schnellsten wachsende Land in Südostasien. Bei grossen Messeplätzen wie der Messe Frankfurt trägt das Geschäft im Ausland bereits 45 Prozent bei, in gewissen Jahren sogar 55 Prozent. Das bedeutet: Während die meisten Länder in Europa wirtschaftlich stagnieren, kommt ein wachsender Teil des Geschäfts aus dem Ausland.
Zwei Drittel aller Weltleitmessen finden nach wie vor in Deutschland statt.
Die Pandemie hat bei den Besucherinnen und Besuchern zu einer Art Paradigmawandel geführt. Die momentane Entwicklung geht in die Richtung, dass die ausländischen Unternehmen weniger Delegierte als früher für das Besuchen der Leitmessen in Deutschland abstellen. Sogar das könnte sich jedoch wieder einpendeln. Mit den reduzierten Besucherzahlen auf Messen, so der oft gehörte Tenor der Aussteller, steigt deren Entscheidungskompetenz für Investitionen. Selten haben sich Aussteller so euphorisch über den Wert von Messen geäussert wie in den beiden letzten Jahren und noch nie waren die Veranstalter trotz einem Rückgang an Besucher-Einnahmen so zufrieden wie seit der Renaissance der Messewirtschaft. Der weltweite Wettlauf um das Besetzen und Veranstalten von Messethemen hat, wir wagen es zu behaupten, Vor-Covid-Enthusiasmus erreicht. Die gute Stimmung von Ausstellern auf Weltleitmessen wie der Drupa in Hannover, die wir besucht haben, ist unübersehbar.
Noch vor 30 Jahren galten Messen im Ausland an gewissen deutschen Messeplätzen als Tabu. Diese Philosophie hat sich in den letzten Jahrzehnten vollständig gedreht, nicht zuletzt dank der Erkenntnis, wie die starke Position der deutschen Veranstalter im Ausland wirtschaftliche Rückkoppelungseffekte in Deutschland auslösen. Messen im Ausland bringen mehr Ausstellerinnen und Besucher aus den entsprechenden Ländern nach Deutschland. In ihren jeweiligen Regionen sorgen sie für eine Multiplikatorwirkung der Leitmarke in Deutschland und, wie dargestellt, für substanzielles wirtschaftliches Wachstum.
Reverse Zeitenwende in der Digitalisierung
Der durch die Pandemie erzwungene Wettlauf in Richtung „virtuelle Messe“ ist angesichts der geschilderten Rekordzahlen, aber nicht nur deswegen, zu einem Stillstand gekommen. Die Wirtschaft, Veranstalter und Besucherinnen haben erkannt, dass Onlinelösungen nur ein schwaches Abbild von dem, was Messen darstellen, produzieren können. Heute spricht niemand mehr davon, weil sich gerade das, was man Serendipität nennt, das ungeplante Ereignis, eben nur auf Messen einstellt. Die „Zeitenwende“ zum Thema Digitalisierung ist eher einem Realismus des „zurück in die Zukunft“ gewichen.
Thomas Bauer, Studiengangleiter BWL der Fachrichtung Messe-, Kongress- und Eventmanagement an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Ravensburg drückt dies in seinem Aufsatz „Spannend! Wir reden auf der Messe weiter!“ so aus: „Der Digitalisierungsschub, den viele Aussteller im Marketing wie auch in anderen Geschäftsprozessen in den letzten Jahren erlebt haben, wird mittlerweile kaum noch zur Substitution als vielmehr zur Ergänzung von Live-Kommunikation genutzt.“ Heute schreit kein Mensch mehr nach „virtuellen Messen“ – als ob es so etwas je gegeben hätte – und Fachleute sind sich einig, dass es noch Jahrzehnte dauern wird, bis Messen digital substituierbar sind.
Der Schritt in die Klimaneutralität
Erinnern Sie sich an den Pandemie-Kalauer: Wer ist bei Ihnen für umweltfreundliches Wirtschaften zuständig: der CEO, die Nachhaltigkeitsbeauftragte – oder Covid? Mittlerweile hat die deutsche Messewirtschaft ihr eigenes Programm für eine Klimaneutralität bis im Jahr 2040, fünf Jahre vor dem nationalen Ziel Deutschlands, bekanntgegeben. Pessimisten sagen, dies sei wegen der Reisetätigkeit der ausländischen Besucherinnen und Besucher, den Hauptverursachern von Kohlestoffemissionen, gar nicht möglich. Aber die Ernsthaftigkeit der deutschen Messewirtschaft zu diesem Thema ist unübersehbar.
Nächster Meilenstein ist das Jahr 2025, wenn die deutsche Messewirtschaft zu 100 Prozent Ökostrom nutzen wird. Als eine ihrer jüngsten Massnahmen, bis im Jahr 2027 sind am Messeplatz Deutschland 550 Millionen Euro Modernisierungsinvestitionen geplant. Die Reduzierung des CO2-Ausstosses soll mit der Reduktion des Wasserverbrauchs, des Verkehrs, des Standbaus und des Abfalls gestützt werden. Zudem haben die einzelnen Messeplätze eigene Massnahmen definiert, um die Umweltziele zu erreichen.
Deutschland ist das Messeland Nummer eins in der Welt und wird dies mit der Zeitenwende auf absehbare Zeit bleiben. Viereinhalb Milliarden Euro Steuereinnahmen für Bund, Länder und Gemeinden durch das Veranstalten von Messen sorgen für eine starke Lobby. Messen in Deutschland tragen gemäss den AUMA-Berechnung mit bis zu 28 Milliarden Euro zum gesamtwirtschaftlichen Plus bei und sichern um die 230‘000 Jobs. Sie sind Wirtschaftsmotoren in Deutschland und werden es auf absehbare Zeit bleiben.
Urs Seiler, Herausgeber smartville.digital