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„Europa lehren, wie spät es ist“ – oder die Uhrmacherei Voltaires

Gegen Ende seines Lebens empfängt Voltaire (1694-1778) Hunderte von Genfer Uhrmachern auf seinem Anwesen in Ferney bei Genf und träumt davon, der Uhrenfabrik der Calvinstadt ernsthafte Konkurrenz zu machen.

Ein wenig bekanntes, aber umso faszinierenderes Kapitel der Geschichte der Uhrenindustrie aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Verbindung berühmter Literaten und Geistesgrössen mit der Welt der Uhrmacherei. Jean-Jacques Rousseau und sein Feind Voltaire – die beiden „Stars“ der Philosophie des Zeitalters der Aufklärung – stehen, jeder auf seine Weise, für diese besondere Verbindung.

Ersterer, Rousseau, war der Sohn und Enkel von Genfer Uhrmachern. In seiner Jugend begann er eine Lehre als Graveur, was bei ihm den Geschmack und Sinn für elegant gezeichnete Formen weckte. Später schlug er zwar eine literarische Laufbahn ein, vergass dabei aber seine handwerklichen Wurzeln nicht, schrieb mehrmals darüber und pries dabei die Handwerkskunst und das Arbeitsethos dieser Welt.

Ganz anders Voltaire, der für eine der interessanten Episoden der Uhrmacherei seiner Zeit besorgt war. Ab 1770 beherbergte er auf seinem Landsitz in Ferney bei Genf eine Kolonie aus Hunderten von Genfer Uhrmachern. Er versammelte diese mit dem erklärten Ziel, das Geschäft der Genfer Uhrenfabrik in Verlegenheit zu bringen, wenn nicht zu ruinieren.

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Fyodor Rokotov: Kaiserin Katharina II., 1763, Öl auf Leinwand, Staatliche Tretjakow-Galerie, Moskau.

Uhrmacher ohne Bürgerrechte

Dieser Exodus nach Ferney folgt auf ein langes Jahrzehnt sozialer, wirtschaftlicher und politischer Konflikte, die die Stadt Calvins erschütterten. Die Herausforderungen dieser Spannungen sind komplex. Frankreich führte einen regelrechten Wirtschaftskrieg gegen Genf, der in Versailles als „Uhrmacherkrieg“ bezeichnet wurde. Auf sozialer Ebene betrafen diese Feindseligkeiten insbesondere die „Natifs“, das heisst die Söhne von Genfer Einwohnern, die nicht den Titel eines Bürgers besassen. Sie stellten die Mehrheit der Arbeiter in der Fabrik. Ab der Mitte des Jahrhunderts verschlechterten sich ihre Stellung und ihre Freiheitsrechte. Es wurde ihnen verwehrt, als echte Bürger anerkannt zu werden. Gleichzeitig wurden ihnen verschiedene Bürgerrechte verweigert, wie das Recht, Geschäfte zu eröffnen, ihre Produkte zu verkaufen oder Ämter in den Zünften zu bekleiden.

Nach gewalttätigen Konflikten, Todesfällen und zahlreichen Versuchen der betroffenen Schicht, sich anderswo niederzulassen, fanden 1770 viele von ihnen schliesslich Zuflucht bei Voltaire. Er lebte seit 1758 in dem von ihm erbauten Schloss in Ferney im Pays de Gex in der Nähe von Genf und war der einflussreichste und reichste Autor seiner Zeit. Im Gegensatz zu Rousseau, der ein Leben in Einfachheit befürwortete, liebte Voltaire den Luxus. Dank seiner Beziehungen zu den Mächtigen Europas und seiner nachgewiesenen Begabung für lukrative Investitionen genoss er eine jährliche Rente, die der einiger Mitglieder der französischen Königsfamilie entsprach. Auf dem unternehmerischen Gebiet führte er eine Vielzahl von industriellen und handwerklichen Experimenten durch, darunter die Finanzierung von Gerbereien, Ziegeleien, Töpfereien, Seidenstrümpfen, Spitzen und Keramikwerkstätten.

Die Uhrmacherei erweiterte dieses Portfolio. Voltaire sah darin die Chance, Katholiken und Protestanten in Harmonie zusammenleben zu lassen. Darüber hinaus bot die Migration dem mittlerweile 70-jährigen Schriftsteller die Möglichkeit, seinen eigenen Kampf gegen die gute Genfer Gesellschaft zu führen, mit der er seit Jahren Streitigkeiten ausfocht. So setzte Voltaire seine Energie und sein Kapital dafür ein, eine Uhrenmanufaktur aufzubauen, die dem Standort Genf Konkurrenz machte und auch Ludwig XVI zu beweisen, dass er weit mehr als ein Schriftgelehrter und Philosoph war.

Voltaire, ein ehrgeiziger Uhren-CEO

Voltaire empfing die Handwerker zunächst in einer Scheune, die ihm als Theater diente, und baute später Wohnhäuser, um sie unterzubringen. Er gewährte ihnen zinslose Kredite und versorgte sie mit Rohstoffen, vor allem mit Gold. Die Produktion der Uhrmacher in Ferney orientierte sich an jener in Genf, die auf emaillierte und mit Edelsteinen besetzte Uhren spezialisiert war. Der Katalog des Hauses Dufour & Céret weist allerdings eine grosse Vielfalt bezüglich Qualität und Stücken auf, die zu Preisen hergestellt wurden, die im Vergleich zum französischen Markt konkurrenzfähig blieben. Er umfasst goldene und verzierte Uhren, Sekundenuhren, Uhren mit Zylinderhemmung und einfache Silberuhren. Im Jahr 1773 erreichte die Produktion 4000 Stück. Dabei trugen die Uhren nicht Voltaires Namen, sondern den Namen Ferney oder eine seiner Abwandlungen.

Um die Uhren zu verkaufen, schreckte Voltaire vor nichts zurück. Er erreichte, dass sie kostenlos mit der französischen Post befördert wurden, und nutzte sein aristokratisches und diplomatisches Netzwerk, um die Uhren zu verkaufen. Er zögerte nicht, gewagte Verkaufsstrategien zu verfolgen und orchestrierte mehrere Sendungen an den französischen Hof, wo die Uhren allerdings unbezahlt blieben, da sie nicht bestellt worden waren. Zur besten Kundin der Uhren aus Ferney wurde schliesslich die russische Zarin Katharina II.: Sie beglich die Rechnungen kommentarlos, selbst für Bestellungen, die nie getätigt worden waren. Gemeinsam mit Katharina II. überlegte Voltaire sogar, wie er die russischen Gebiete und Agenten nutzen könnte, um neue Handelswege nach Asien und China zu erschliessen. Der Philosoph hatte den Ehrgeiz, die Genfer Uhrenindustrie in diesen Märkten zu zerstören und auch das britische Monopol in diesen Gebieten einzudämmen.

Voltaires Ehrgeiz kannte keine Grenzen. So beantragte er für die Werkstätten seines Dorfes den Titel „Manufacture royale“ (Königliche Manufaktur). Dieses Privileg, das von der französischen Krone abhängt, wurde ihm zwar nicht gewährt, gleichwohl wurde die Bezeichnung an der Fassade von einem der neuen Gebäude in Ferney angebracht. Die Bezeichnung war nicht das Einzige, was Frankreichs Krone Voltaires Uhrmachern verweigerte: Sie versuchten beispielsweise auch vergeblich, das Recht zu erhalten, für die Uhren wie in Genf 18-karätiges Gold zu verarbeiten, obwohl das französische Gesetz die Verwendung von 20-karätigem Gold vorschrieb.

Die Goldfrage ist ein gutes Beispiel für die Probleme von Voltaires Unternehmen. Die Modelle und Praktiken, um die Genfer Uhrenproduktion aus der Republik zu exportieren, erwiesen sich trotz aller Bemühungen als sehr schwierig. Denn dem Unternehmen in Ferney fehlte ein wesentliches Element: Der Erfolg der Genfer Uhrenindustrie beruhte auf einer soliden Handelsstruktur und bewährten Netzwerken, in denen die Reisen von Agenten, Händlern und Etablisseuren eine wichtige Rolle spielten. Voltaires persönliches Netzwerk war zwar gross und beachtlich, konnte mit dieser Organisation am Ende aber nicht mithalten.

Das Abenteuer der Uhrenkolonie in Ferney war am Ende von kurzer Dauer und überlebte Voltaires Tod im Jahr 1778 nicht. Die Uhrmacher kehrten in der Folge nach Genf zurück, das ihre Rückkehr unterstützte. Im Jahr 1784 wurde Jean-Antoine Lépine, der in Ferney eine Niederlassung besass, gebeten, die Manufaktur dort wieder in Gang zu bringen. Und Abraham-Louis Breguet plante seinerseits 1793, seine Produktion in Ferney anzusiedeln, doch das Projekt wurde nicht verwirklicht. Am Ende war es also vor allem die umfangreiche Korrespondenz Voltaires, die die Erinnerung an diese Ferney-Episode bewahrt hat. Die mit Humor und Scharfsinn verfassten Briefe enthalten viele Kommentare über die Welt der Uhren, die auch zweieinhalb Jahrhunderte später noch erstaunlich aktuell sind.

Rossella Baldi

Titelbild: Ansicht des Schlosses Ferney in: Jean-Benjamin de Laborde, „Tableaux topographiques, pittoresques, physiques, historiques, moraux, politiques et littéraires de la Suisse“, Paris, De Clousier, 1780-1788, Bibliothèque de Genève.

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