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Die Zeit der Blumen

Wozu brauchen wir Uhren und Pendulen, wenn die Blumen in unserem Garten uns die Zeit anzeigen können? Im 18. Jahrhundert war es der Traum des bedeutenden Botanikers Carl von Linné, mit Pflanzen die Zeit zu bestimmen.

Anfang März ändert die Blumenuhr im Jardin Anglais in Genf jeweils ihr Dekor, wenn ihr Beet mit Primeln bepflanzt wird, die den Frühling ankündigen. Obwohl sie in ihrer Art nicht einzigartig ist – Blumenuhren tauchen seit Anfang des 20. Jahrhunderts überall auf der Welt auf –, ist sie zusammen mit dem Jet d‘eau ein wichtiges Wahrzeichen der Stadt. Die 1955 geschaffene Uhr (Abb. 1) symbolisiert die Genfer Exzellenz im Bereich der Uhrmacherei sowie die lange botanische und gartenbauliche Tradition der Region. Ihre aktuellen Zeiger wurden 2017 von Patek Philippe hergestellt und als Spende übergeben; ihr 2,5 Meter langer Sekundenzeiger ist wahrscheinlich der längste Zeiger der Welt.

Regelmässig feiert die Uhr die subtile Verbindung zwischen der Blumenwelt und der Zeit. Bereits seit Jahrhunderten haben Blumen einen festen Platz in der dekorativen Sprache von Uhren, Pendeluhren und anderen Objekten, die mit der Zeitmessung in Verbindung stehen. In Email verewigt, in Holz und Metall graviert oder aus Edelsteinen geschliffen, verschönern sie auf zarte Weise den Lauf der Zeit, deren Zyklen und Vergänglichkeit sie andeuten.

Nur wenige der zahlreichen Touristen, die jedes Jahr die Blumenuhr in Genf bewundern, ahnen jedoch, dass sich hinter den die Blumenpracht umkreisenden Zeigern eine uralte Sehnsucht verbirgt: der Traum, den Lauf der Zeit durch die Bewegungen der natürlichen Welt auszudrücken.

 

Der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) beschäftigte sich auch intensiv mit dem Konzept der Blütenuhr.

Rhythmen der Natur

Der erste, der in diese Richtung forschte, war der Jesuit Athanasius Kircher (1620-1680). Er dachte sich eine Sonnenblumenuhr aus, die vom Heliotropismus der Blume inspiriert war, das heisst ihrer Tendenz, sich der Sonne zuzuwenden, wenn diese sich am Himmel bewegt (Abb. 2). Mitte des 18. Jahrhunderts gewannen die Versuche, die Mechanik durch die organische Welt zu ersetzen, durch den schwedischen Naturforscher Carl von Linné (1707-1778) an Bedeutung. Dieser war zu seiner Zeit ein regelrechter Weltstar der Botanik und gilt heute als Vater der modernen biologischen Taxonomie. Ihm ist die Entwicklung mehrerer Schlüsselbegriffe zu verdanken, wie der binären Nomenklatur (Gattungsname plus Art), die einen enormen Einfluss auf die Wissenschaft und die Praxis der Naturgeschichte hatte. Im Lauf seines theoretischen Arbeitens war  der Schwede auch der erste, der das Konzept der Biodiversität hervorhob.

In seinem 1751 veröffentlichten Werk „Philosophia Botanica“ beschreibt Linné, wie er Triebe und Zahnräder durch die Rhythmen der Natur ersetzen wollte. Darin skizziert er, was er auf Lateinisch als „Horologium Florae“ bezeichnet: einen idealen Garten, in dem ein Dutzend Pflanzenarten, deren Blüten sich zu verschiedenen Tageszeiten öffnen und schliessen, in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet werden. Die Angabe der Tageszeit würde dabei durch das jeweilige Öffnen der Blüten erfolgen.

Bei seinen Feldbeobachtungen hatte Carl von Linné nämlich festgestellt, dass Blumen ihre Blütenblätter nach unterschiedlichen Logiken entfalten, und er hatte sie in drei Kategorien eingeteilt. Erstens in die ,meteorici‘: Blumen, die sich je nach Wetterlage öffnen und schliessen. Zweitens in die ,tropici‘: die sich an die Länge des Tages und seine Helligkeit anpassen. Und schliesslich in die ,aequinoctales‘: die sich jeweils zu einer bestimmten Tageszeit öffnen und wieder zusammenfalten.

Es liegt auf der Hand, dass es die Letzteren sind, denen Linné die Zeitangabe anvertraut. Er stellt eine lange Liste zusammen, in der die Arten nach der Zeit ihrer Entfaltung geordnet sind (Abb. 3 und 4). Zu den Nachtpflanzen gehören Lilien, Winden, Wegwarten und Mohn, zu den Tagespflanzen Seerosen, Nelken, Habichtskräuter und Ringelblumen. Wenig überraschend sind viele dieser Pflanzen Wildblumen aus seinem Heimatland. Mit einem Hauch von Ironie kommentiert der Botaniker, dass seine Uhr so genau wäre, dass sie die schwedischen Uhrmacher in den Bankrott treiben würde.

Bekanntlich hat Linné sein ehrgeiziges Vorhaben nie in die Tat umgesetzt, was einige Gärtner im 19. Jahrhundert nicht davon abhielt, es mit wenig Erfolg gleichwohl zu versuchen. Sie wählten dazu bestimmte Pflanzen aus und ordneten sie zu einer kreisförmigen Uhr an. Es zeigte sich jedoch, dass die Herstellung einer Blumenuhr viele Schwierigkeiten mit sich bringt, angefangen bei den lokalen Gegebenheiten: So werden die Blütezeiten beispielsweise von den Schwankungen des Tageslichts und damit vom Breitengrad des Ortes beeinflusst, an dem die Blumen wachsen. Es ist durchaus so, dass die Genauigkeit einer solchen Uhr – trotz Linnés Gegenargumenten – durch Einflüsse des Wetters und der Jahreszeiten eingeschränkt bleibt. Was das Licht betrifft, weiss man heute, dass die Länge der Dunkelphasen, die Intensität und sogar die Wellenlänge des Lichts Faktoren sind, die das Aufblühen beeinflussen. Darüber hinaus können, wie bei echten mechanischen Objekten, auch die Temperatur und in geringerem Mass die Luftfeuchtigkeit und elektrische Felder das Öffnen der Blüten beeinflussen. Solche Ähnlichkeiten zeigen jedoch auch, dass Linnés Versuche durchaus ihre Berechtigung hatten, erfordern sie doch ein spezifisches Fachwissen vergleichbar mit jenem der traditionellen Uhrmacherkunst.

Trotz dieser Hindernisse hat die Idee der Blütenuhr das Handwerk und die Künste immer wieder fasziniert und auch die Blumenuhren in unseren Städten hervorgebracht. Auch die zeitgenössische Uhrmacherei und die Haute Joaillerie entdecken in diesem poetischen Bild einer Harmonie zwischen Natur und Mechanik bis heute eine Quelle des Zaubers und der Inspiration für ihre Kreationen (Abb. 5).

Rossella Baldi

Titelbild: Die Blumenuhr im Jardin Anglais in Genf wurde 1955 eingeweiht, sie ist wesentlich von der Idee der Blütenuhr inspiriert.

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