Carlo Sello ist ein passionierter Goldschmied. Auch nach über 40 Berufsjahren hat er die Freude am Handwerk, an der Kreation und am Entdecken neuer Fertigungsmöglichkeiten nicht verloren. Sein jüngster Streich, die Uhr „Qualcuno“, ist auch ein Zeichen dafür, auf welch verschlungenen Wegen sich die Schaffenskraft manchmal ihren Weg bahnt.
Am Anfang stand Sellos Idee, eine Schmucklinie in der Tradition der etruskischen Goldschmiedetechnik zu kreieren, wie sie vor 2500 Jahren gepflegt wurde. „Was die Etrusker handwerklich leisteten, ist beispiellos. Die Präzision ihrer Arbeiten grenzt an ein Wunder“, so Sello. Diese feine, mikroskopisch präzise Goldschmiedearbeit fasziniert ihn schon seit vielen Jahren. Mit der Schmucklinie „Gioelli della carità“ plante er deshalb eine Schmucklinie mit bis zu einem Millimeter kleinen Goldschälchen, die es an Präzision mit den Etruskern aufnehmen konnte.
Vom Werkzeug zur Uhr
Zur Herstellung dieser Schälchen benötigte er einen Spezial-Aushauer. So kam Sello Anfang 2015 in Kontakt mit der Firma Agie in Losone, die das Werkzeug für ihn herstellte. Dort war es der Verantwortliche der Lehrlingsausbildung, der im Lauf der Zusammenarbeit mit einer ungewöhnlichen Anfrage auf ihn zukam. Er bat Sello, eine vor Jahren vom Tessiner Designer Marco Mariotta konzipierte Uhr, von der in der Firma noch ein Exemplar existierte, umzugestalten und zu modernisieren. Sello wollte sich darauf aber nicht einlassen, da er Mariotta persönlich kannte und dessen Handschrift nicht verändern wollte.
Die Idee kam nachts
Nach einigen Gesprächen willigte Sello jedoch ein, sich mit der Konzeption einer neuen Design-Uhr auseinanderzusetzen, die für Mitarbeiter der Firma bestimmt sein sollte. Die Kernidee, das Zifferblatt der Uhr pyramidenförmig zu gestalten, folgte schon wenig später, war allerdings nicht von Sello selber, sondern von einem befreundeten Cafébesitzer in Ascona. Sello hatte ihm vom Projekt erzählt, weil er wusste, dass dieser gern und auf eigentümliche Art zeichnete. Die Skizzen, die dieser ihm anschliessend zeigte, dienten als Basis für weitere Entwürfe, bis Sello eines Nachts die zündende Idee für die Zifferblattform hatte: „Ich wollte das Zifferblatt nicht einer vier- sondern einer dreieckigen Pyramide nachempfinden“, so Sello. Ausserdem entschied er, das Gehäuse nach rechts zu drehen und „12 Uhr“ bei „2 Uhr“ zu platzieren. „Mit der Spitze nach oben hätte das Ganze wie ein Verkehrssignal ausgesehen“, so Sello.
Planänderung und Gespräch in Le Locle
Es folgten viele Skizzen und Modelle. Als er sich in einem fortgeschrittenen Stadium wieder mit den Verantwortlichen von Agie traf, stiess das Projekt aber plötzlich auf Ablehnung. Die Uhr entspreche nicht ihren Vorstellungen, sei zu extravagant und gleichzeitig zu gewöhnlich, so Sello. „Ich war überrascht und enttäuscht. Ich hatte sehr viel Zeit in dieses Projekt investiert. Jetzt alles abblasen wollte ich nicht, dazu war ich schon viel zu weit. Ausserdem forderte die Absage meinen Ehrgeiz und auch ein wenig meinen Trotz heraus.“
Sello entschied, das Projekt auf eigene Faust zu realisieren und sah sich nach möglichen Herstellern um. Ein Freund im Tessin empfahl ihm die Firma Chronode in Le Locle. Eher unerwartet lud ihn das Unternehmen zu einem Gespräch ein, und zu seiner noch grösseren Überraschung konnte er den Geschäftsführer Jean-François Mojon für das Projekt begeistern: Sie waren bereit, den Auftrag zu realisieren. Allerdings, so die Einschränkung, nicht in der Schweiz, sondern mit einem Unternehmen in China, das man eingehender prüfen wollte.
Das Geheimfach
Die Realisierungsphase beschreibt Sello als sehr professionell. Er war gut ins Projekt involviert und konnte auch direkt vor Ort in China technische Feinheiten klären. Zudem konnte er dort auch seine aufwändige Uhrenbox aus Wasserrohr herstellen. Sie ähnelt einem avantgardistischen Designobjekt und ist mit einer Schublade mit Uhrmacher-Lupe ausgestattet.
„Abgesehen davon, dass die Lupe als Accessoire gut zur Uhr passt, lässt sich mit ihr auch prüfen, ob der Goldschmied gut gearbeitet hat“. Carlo Sello
Insbesondere natürlich in Bezug auf das Geheimfach, das am rechten Gehäuserand integriert ist und sich durch einen kleinen Hebel herausziehen lässt. Darin verborgen sind die etwa fünf Millimeter grossen kreisrunden Täfelchen aus 900er und 750er Gold. Jedes wird individuell für den Kunden angefertigt. Auch hier ist das Vorbild der Etrusker spürbar. Einerseits durch die weiche Goldlegierung, andererseits durch die mikroskopischen Dimensionen, in denen gearbeitet werden muss. Eines der Täfelchen wurde mit lediglich 0,45 Millimeter grossen Diamanten besetzt. Auch das Gravieren und die Herstellung feinster Drähte und Kügelchen für diese „Mikroplättchen“ erweisen sich immer wieder als grosse Herausforderung. Einige Gravuren und Fassarbeiten führt Sello aus, zudem arbeitet er für Gravuren auch mit Peter Aebi aus Bern zusammen und für Fasserarbeiten mit Timeless Design aus Suhr.
Du bist jemand
Carlo Sellos Uhr heisst „Qualcuno“. Oder, wenn man die auf die Vorderseite gravierte „6“ (ital. „sei“ heisst auch „Du bist“) dazu nimmt, heisst sie auch „Sei Qualcuno“ („Du bist jemand“). Dieses „Du bist jemand“ symbolisiert die Individualität jeder Uhr, die sich mit den Täfelchen im Geheimfach konkretisiert. Die „Qualcuno“ verfügt über ein automatisches Werk (ETA 2824). Das Gehäuse besteht aus Titan. Die Indices, die gravierte „6“, die Zeiger, die Krone und der Hebel fürs Geheimfach sind vergoldet. Die Uhr wird in einer 300er-Auflage gefertigt: 100 ganz in Schwarz, 100 mit hellem Gehäuse und schwarzem Zifferblatt und 100 ganz in Weiss. Der Verkaufspreis pro Uhr liegt bei 1500 Franken. Zu Ehren der chinesischen Handwerker, die beim Projekt ganze Arbeit geleistet hätten, verzichtet Sello auf der Uhr zudem auf den Swiss-made-Nachweis, auch wenn seine Uhr die Auflagen spielend erfüllt.
Info
www.qualcuno.ch