Die Schweizer Kunsthistorikerin Rossella Baldi hat eine Leidenschaft für Dokumente und Manuskripte, die in Archiven schlummern und darauf warten entdeckt, entziffert und neu belebt zu werden. Eines ihrer Spezialgebiete sind die Lebenszeugnisse und Traktate von Uhrmachern aus dem 18. Jahrhundert.
Rossella Baldi studierte in Neuenburg Kunstgeschichte im klassischen Sinn. Im Lauf des Studiums entdeckte sie jedoch eine Leidenschaft, die sie bis heute begleitet: Manuskripte des 18. Jahrhunderts. Es war im Rahmen eines Seminars zu Reiseberichten aus jener Zeit, in dem sie mit Manuskripten des französischen Gelehrten Roland de la Platière (1734-1793) in Berührung kam. Während dieser Arbeit entdeckte sie aus Zufall in der Bibliothèque publique von Neuenburg 80 bislang unbekannte Originalbriefe von de la Platière. Ihre Neugier war geweckt.
Die Entdeckung beschreibt sie als „furiosen Moment“, der ihr eine komplett neue Welt eröffnet habe. Es sei gewesen, wie wenn sie plötzlich Zugang zu einer völlig neuen Zeit und Epoche bekommen hätte. Sie entdeckte ihre Faszination, Persönlichkeiten aus anderen Zeiten gewissermassen über die Schulter zu blicken: „Die Leute existieren, ohne zu existieren“, so Baldi. Von da an wusste sie, dass sie als Historikerin in erster Linie das Leben von Menschen verstehen wollte – und zwar aus dem 18. Jahrhundert. Dieses sei deshalb so spannend, weil in jener Zeit viele Experimente durchgeführt und Entwicklungen in Gang gesetzt wurden, die erst später, im 19. Jahrhundert, zur Reife gelangten. Während das 19. Jahrhundert uns heute in vieler Hinsicht vertraut sei, sei das 18. Jahrhundert fremdartiger und erfordere mehr „Zugangsaufwand“, so Baldi. Habe man den Schlüssel aber gefunden, sei es umso faszinierender.
Der Einstieg in die Uhrengeschichte
Über die Beschäftigung mit Roland de la Platière kam Rossella Baldi schliesslich auch in Verbindung mit der Geschichte der Uhrenindustrie – und ihren Protagonisten. De la Platière arbeitete für die französische Regierung, und zwar als eine Art technischer Experte für Stoffe und Textilien. Der Zufall wollte es, dass das Museum von Neuenburg 2009 ein Forschungsprojekt zu den Uhrmachern Pierre Jaquet-Droz (1721-1790) und seinem Sohn Henry-Louis Droz (1752-1791) lancierte. Gesucht wurde ein Historiker, der sich mit dem technischen Milieu des 18. Jahrhunderts gut auskannte. Ein Steckbrief wie geschaffen für Rossella Baldi, die auf diesem Weg erstmals auf dem Gebiet der Uhrenherstellung des 18. Jahrhunderts zu forschen begann.
Mit dieser Erfahrung im Gepäck arbeitete sie später eine Zeit lang für das Musée International d’Horlogerie (MIH) in La Chaux-de-Fonds als stellvertretende Konservatorin sowie als Direktorin des Instituts l’Homme et le Temps. Nachdem sie bereits dort mit dem Uhrmacher Ferdinand Berthoud (1727-1807) in Berührung gekommen war, begann sie sich in der Folge durch eine Tätigkeit für die gleichnamige Marke, die 2015 von Karl-Friedrich Scheufele (Chopard) neu lanciert worden war, intensiv mit dem Leben und den Manuskripten des aus Neuenburg stammenden Uhrmachers zu beschäftigen, der in Paris und London Karriere gemacht hatte.
Mittlerweile ist die Uhrmacherei des 18. Jahrhunderts zu einem Spezialgebiet von Rossella Baldi geworden, die sich heute am ehesten als Kultur- und Sozialhistorikerin sieht: Was sie weniger interessiert, sind die technischen Details. Sie wisse zwar, wie Uhrwerke des 18. Jahrhunderts aussehen, aber die genaue Funktionsweise sei die Domäne von Uhrmachern. Vielmehr ist es der kulturelle und soziale Kontext, die Lebensumstände, in denen sich die Uhrmacher und ihre Auftraggeber und Kunden bewegten, was sie fasziniert. Auch historische Quartiere und Lebenswelten der Uhrmacher, zum Beispiel Charring Cross in London, oder der Quai de l’Horloge auf der Ile de la Cité in Paris, werden in den Schilderungen von Rossella Baldi aktuell und lebendig, wie wenn es sie heute noch genauso gäbe.
Die Kulturgeschichte der Uhrmacherei werde heute allerdings meist von Liebhabern und Sammlern geschrieben und nicht von Historikern, so Baldi. Dabei gehört es gerade zum Rüstzeug des Historikers, Dokumente in Archiven und Bibliotheken aufzuspüren. Das sei ein Handwerk, das man lernen müsse und das viel Erfahrung erfordere. Im Lauf der Dinge entwickle man dann aber einen Instinkt für spannende, noch unentdeckte Dokumente, und spüre, wo man suchen müsse.
Schriftstellerei der Uhrmacherei
Am Beispiel der Schriften Ferdinand Berthouds weist Rossella Baldi auch nach, wie wichtig das Publizieren von Uhrentraktaten für Uhrmacher des 18. Jahrhunderts war. Diese Schriften, die häufig in einer Auflage von 800 bis 1200 Exemplaren publiziert wurden, ermöglichten es ihnen, im modernen Sinn gesprochen Marketing zu betreiben, indem sie ihre (potenziellen) Kunden aufklärten und vom Wert ihrer Werke überzeugten. So erlangte Ferdinand Berthoud nicht nur durch seine uhrmacherischen Fertigkeiten, sondern auch durch seine Traktate, wie dem berühmten „L’Essai sur l’horlogerie“ (1763), der in zwei Bänden erschien, Weltruhm.
Aktuelle Projekte
Aktuell ist Rossella Baldi Mitarbeiterin bei einem Projekt des Schweizerischen Nationalfonds zu Bibliotheken und Museen des 18. und 19. Jahrhunderts und plant zudem ein Buch zu den Uhrmachern der Westschweizer Familie Gagnebin im Zeitalter der Aufklärung. Durch die Antiquarian Horlogical Society in London kam sie zudem mit dem Leben des aus dem Waadtland stammenden Uhrmachers Josiah Emery (1731-1794), der später in London Karriere machte. Emery war der erste, der die von Thomas Mudge (1715-1794) entwickelte Ankerhemmung für Taschenuhren verwendete und in grösserer Serie herstellte. Zu den Uhrenkreationen Emerys beabsichtigt Rossella Baldi die Publikation eines Buches. Reizen würde sie auch eine intensivere Forschung zu Voltaire (1694-1778) und seiner aktiven Zeit als Uhrenindustrieller im französischen Ferney, einem Nachbarort von Genf. Nicht zuletzt dessen Briefe zur Uhrmacherei, so Baldi, gehörten zum Pointiertesten und Schönsten, was in diesem Bereich je geschrieben worden sei.
Marcel Weder